Geister der Vergangenheit

Unseren Vorfahren war der Zugang zur Unterwelt noch ein physischer Ort, abgelegen wie hier im ehemaligen Zonenrandgebiet
Unseren Vorfahren war der Zugang zur Unterwelt noch ein physischer Ort, abgelegen wie hier im ehemaligen Zonenrandgebiet

 

 

 

 

 

 

Vorgestern schritt ich in der Herbstsonne neben einer Klientin über das inzwischen Quartier gewordene Krankenhausgelände von Barmbek und erwähnte beiläufig, dass mich als Kind die Wuchtigkeit der alten Gebäude, vornehmlich des Wasserturms und des Schornsteins daneben ganz schön eingeschüchtert hätten und obwohl ich das heute besser zu verstehen meine, sagte sie da zu meiner Überraschung, dass dies wohl kein Wunder sei, bei all dem, was noch in den sechziger Jahren mit den Kindern in solcher Umgebung angestellt wurde, Kindern, die nur zu ihrem Besseren, wie man sie hatte wissen lassen, an einen solchen Ort gelangt waren, wo sie eine Welt eintauchten, die mit dem Dritten Reich nicht gänzlich untergegangen war.

 

Die Klientin selbst ist sechs Jahre jünger als ich, also geboren worden, nach dem Erscheinen des Sergeant Pepper Albums, einer Zeit, die wir heute auch eher damit in Verbindung bringen als mit dem, was Kindern in jenen Jahren immer noch an vielen Orten geschah, wenn sich Anlass dazu fand, so wie bei ihr.

 

Meine Cousine etwa war um dasselbe Jahr herum in eine Kur Einrichtung in Lüneburg verschickt worden, wo sie mit ansehen musste, wie andere Kinder ihr Erbrochenes gezwungen wurden wieder aufzuessen.

 

Als dann immer mehr solcher Fälle von Misshandlung in dieser Institution bekannt wurden, hat man sie rasch geschlossen.

 

Was aus ihrem Personal wurde, habe ich nie erfahren. Der Bedarf an solchem war gleichwohl groß in jenen Jahren und wahrscheinlich werden viele irgendwo anders untergekommen sein.

 

Ein anderer Klient erzählte mir in den 90er Jahren von seiner Barackenzeit nach dem Krieg in Rickling, ein kleiner Ort bei Bad Segeberg, in dem ich als Kind drei Mal unseren Sommerurlaub verbracht hatte als ein Bezugspunkt, hier im Rahmen einer diakonischen Familienfreizeit, wo sonntägliche Kirchbesuche in dieser überwiegend ländlichen Gemeinschaft noch zum Rahmenprogramm gehörten. Dass es im Ort auch eine Anstalt für Irre gab, wusste ich damals schon und machte mir Angst vor denen. Einmal soll einer von ihnen entlaufen sein, nach dem man suchte im nächtlichen Moor, wie in einem alten Edgar Wallace Film. Ich habe in jener Nacht nicht sehr gut geschlafen, könnt ihr glauben.

 

Und in besagter Lüneburger Klinik war ich zwei Jahre vor meiner Cousine selbst für sechs Wochen einer solchen Kur teilhaftig geworden, litt ich, in derselben Umgebung aufgewachsen wie sie dann auch unter ähnlichen Symptomen, ebenso mein Bruder, der mit dabei war, aber aufgrund seines Alters einer anderen Gruppe zugewiesen worden war und er durfte auch zwei Wochen früher heim von der Höhensonne, unter der es still und fast nackt liegen hieß auf kalten Matten oder den heißen Solebädern, zu denen man uns durch die halbe winterliche Stadt führte, wie es mir damals vorkam, ein Ort am Ende der Welt für einen, der zum ersten Mal für längere Zeit ohne seine Eltern und deren Wurzeln an Großeltern und Geschwistern war.

 

Und wie vielen anderen Kindern mag das ebenso gegangen sein zu jener Zeit?

 

Meine Klientin vorgestern hat solche Aufenthalte aufgrund ihrer Gegebenheit in einem viel größeren Umfang erlebt und beschrieb mir das Personal dort als alte Nazis, die in solchen Stätten nach dem Ende ihres Führers untergetaucht waren mit dem, was sie ja wirklich gut konnten, Aufsicht über andere führen.

 

Ähnliches hatte mir auch Gustav in den Neunzigern von Rickling erzählt und wie er immer mal wieder mit dem Gürtel vertrimmt worden war und mit Übung daran.

 

Und während des Schreiten auf dem Barmbeker Gelände und angesichts des Gehörten und auch eingedenk des Umstandes, dass eine weitere Klientin, die ich seit 21 Jahren begleite, derzeit hier im Intensivbereich liegt, obwohl sie vor zwei Wochen lediglich für eine punktuelle Untersuchung mit einer dazu ratsamen Übernachtung gekommen war, stieg einmal mehr der Gedanke in mir auf, ob es mit medizinischen Versuchen an Menschen nach dem zweiten Weltkrieg wirklich zu Ende gewesen ist.

 

Als sozial Arbeitender habe ich eine gute Vorstellung davon gewonnen, wie wehrlos Menschen hinter einer geschlossenen Tür sein können.

 

Das sind Menschen, die sich selbst mitunter nur gurrend, jammernd, jauchzend oder brummelnd uns gegenüber artikulieren können.

 

In einem früheren Arbeiten durfte ich meinem Bereich ein solches Kleeblatt erleben, das flirrende Gurren stammte vom einem Luftzeichen Geborenen, ein reiner Tor, der Parzival alle Ehre gemacht hätte, wie er sich spontan zu einer Mitbewohnerin in die Badewanne legte (vollbekleidet natürlich..), aber auch was seine Schönheit angeht, ein Himmelssohn. Das Jammern zog aus dem Zimmer einer Krebs Frau in die anderen Räume des Hauses, sie war eine echte Undine, die mit ihren feuchten Fingern Klopapier bunt bemalte, das Jauchzen dagegen war Ausdruck eines ebensolchen Feuertemperaments, das morgens schon mit guter Laune erwachte und das an jedem ihrer Tage (!!) und das tiefe Brummeln kam von jener Klientin, die nun in Barmbek im Intensivbereich lag, Erdzeichen war sie, die lediglich dann wie ein Streifenhörnchen zu quietschen anhob, wenn man sie vom festen Boden anhob.

 

Die Präsenz der klassischen vier Elemente, hier verkörpert in besonderen Menschen, war wie eine Offenbarung, ein Alchemie Labor des Lebens und zugleich eine Referenz an den klassischen Paris und seine drei Göttinnen, die um ihn buhlten (den Apfel schloss ich jeden Abend ein für einen nächsten Tag).

 

Mein Kollegium konnte mit diese eher esoterische Betrachtung nichts anfangen und sah darin also auch keine Herausforderung. Es litt auch viel mehr als ich unter dieser Konstellation, es oft nur auszuhalten, was sich dort zutrug und am Ende war ich der letzte, der nicht gekündigt hatte oder Langzeitkrank geworden war, ganz im Gegenteil, aus dieser Zeit nahm ich als Geschenk dieses Quartetts eine Resilienz in mein künftiges Leben, in dem ich nun, nach über 10 Jahren auf ganze 6 Krankheitstage zurückblicke, wovon 3 auf ambulante Eingriffe entfallen, nach deren Narkose noch zu arbeiten mir schon aus versicherungsrechtlichen Gründen nicht erlaubt worden wäre und wenn ich dem noch hinzufüge, dass sich dies um meinem 50. Geburtstag ereignete, ließe sich euch natürlich ein Bär aufbinden, der gut in den Baum auf dem Foto hinein passte, doch ist es so verifiziert in meiner Personalakte und daher für statistische Vergleich mit ähnlichen Situationen und Lebensaltern zu gebrauchen, nicht schlecht für einen alten Sack, sagt selbst, der an die Kraft der Märchen glaubt, und mitunter an Garnverschluss laboriert und seinen Faden verliert, wie hier grad…

 

..ach ja, die Geister der Vergangenheit. Manchmal geben sie, manchmal nehmen sie (von irgendwas muss sich ja deren Existenz speisen).

 

Es liegt in unserer Freiheit damit umzugehen im Labor unseres Alltags.

 

Und von den Sufis rührt ein Sprichwort her, nachdem diejenigen am glücklichsten sind, die am meisten vergeben haben. (und lese und staune, die Wissenschaft, die dies erforscht, gibt ihnen hier sogar recht…)

 

 

 

Machen wir unseren furchtsamen Geistern also Mut, mit Reue, wenn es denn sein soll, aber ohne Furcht davor heimzukehren.